Depressionen

Depressionen sind eine Volkskrankheit. Jeder fünfte Deutsche ist irgendwann in seinem Leben von einer Depression betroffen. Dennoch ist sie ein Tabu, auch wenn es bisweilen so aussieht, als sei dem nicht so: Personen des öffentlichen Lebens bekennen sich häufiger zu ihren Depressionen als früher, vor allem wenn sie aus dem Bereich der Kunst kommen. Auch deshalb mag der Eindruck entstehen, dass Depressionen bei Künstlern quasi mit dazu gehören oder ein Qualitätsmerkmal seien. Würde Robbie Williams z. B. so gute Songs schreiben, wenn er keine dunkle Seite hätte? Hätte Vincent van Gogh so geniale Bilder gemalt? Na ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass beide ihre Depressionen nicht so toll finden oder – im Fall von van Gogh – fanden.

In allen anderen gesellschaftlichen Bereichen sind Depressionen ein Tabu. Immer noch: In der Generation meiner Eltern, der Nachkriegsgeneration, gab es keine Depressionen. Man war mit dem Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder beschäftigt, hatte erstens keine Zeit und wollte zweitens vielleicht auch nicht so genau auf die Abgründe und Traumata von Jahren des Krieges blicken. Aber hat sich das wirklich geändert? Schaut auf den Profisport: Wer zugibt unter Depressionen zu leiden, wird wie Sebastian Deisler belächelt und verhöhnt oder bekommt keinen Vertrag mehr wie Andreas Biermann vom FC St. Pauli. Andreas Biermann wie auch der wesentlich berühmtere Robert Enke sahen irgendwann keinen Ausweg mehr aus ihren Depressionen als den Suizid. Depressionen passen nicht in unsere Leistungs- und Selbstoptimierungsgesellschaft. Sie sind ein Makel, denn man kann sie anders als einen Beinbruch nicht sehen. Sie betreffen das Wesen eines Menschen, etwas, das man schwer fassen kann. Zumindest deutlich schwerer als einen eingegipsten Arm oder einen Kopfverband…

Depressionen sind ein Makel, eine Schwäche, derer man sich schämt. Und Scham ist das privateste Gefühl, das wir kennen; mehr noch als Angst. Hand hoch! Wer würde sich trauen, im beruflichen oder auch weiteren privaten Umfeld zuzugeben, man niedergeschmettert am Boden liegt, dass es einfach nicht gelingt, morgens aufzustehen und die Kinder für den Kindergarten fertig zu machen, dass der Partner oder die Partnerin verzweifelt, weil sie nicht verstehen, was gerade vor sich geht. Wer würde zugeben wollen, unter unerklärlichen Angstzuständen zu leiden oder mit dem Gedanken zu spielen, dass alle anderen vielleicht ohne einen besser dran wären. Ja. Das ist sehr ungangenehm, denn man fragt sich selbst sofort, was das Gegenüber jetzt denken mag. Man ist schließlich selbst Teil der Leistungsgesellschaft und hat vielleicht selbst schon über Kolleg*innen mit der Diagnose ‚Depression‘ gelächelt.

Depressionen gab es schon immer: in der Antike nannte man sie Melancholia, im 19. und frühen 20. Jahrhundert Neurasthenie. Dennoch scheint die Depression heute immer weiter um sich zu greifen, in einer Gesellschaft von Menschen, die sich, um Alain Ehrenberg zu zitieren, auf der Suche nach Selbstverwirklichung erschöpfen und über ihre Erschöpfung verlieren, wer sie eigentlich sind. Und die Depression kann jeden treffen. WIRKLICH JEDEN.

Dabei ist jede Depression individuell verschieden. Sicher gibt es Ähnlichkeiten, aber jeder Mensch hat seine eigene Depression. Die psychiatrische Medizin hat es sich zur Aufgabe gemacht, etwas mehr Klarheit zu schaffen. Sie unterscheidet je nach Ausprägung der Symptome zwischen leichtgradigen, mittelgradigen und schwergradigen Depressionen (dann gibt es rezidivierende Depression, wahnhafte Depression, mit generalisierter Angsstörung, ohne generalisierte Angsstörung und tausend Sachen mehr). Während man eine leichtgradige Depression gerade noch so selbst in den Griff bekommen kann, durch Sport, Gespräche, Meditation, Achtsamkeitstraining usw., wird das bei den beiden anderen, sehr, sehr schwer. In der Regel kommen dann Klinikaufenthalte, Medikamente, Psychotherapie und vor allem eine lange Auszeit hinzu. Mittelgradige und schwergradige Depressionen heilen nicht nebenbei aus.

Der Individualität der Depression entspricht die Individualität ihrer Symptome: Die einen leiden unter einer unerklärlichen Erschöpfung, die es ihnen unmöglich macht, das Bett zu verlassen. Andere halten Menschenmengen, Lärm und Enge nicht aus, weil ihr Nervensystem überreizt ist. Andere entwickeln körperliche Symptome wie Kopf- und Magenschmerzen, Verspannungen im Rücken, Schwindelanfälle , Herzrhythmusstörungen. Wieder andere leiden unter Panikattacken und Gedankenschleifen (ein meistens hirnrissiger Gedanke setzt sich im Kopf fest und lässt sich nicht vertreiben). Nicht nur für den Erkrankten ist es schwer, mit diesen Symptomen umzugehen. Angehörige und Freunde leiden häufig nicht viel weniger: Ein Mensch, den man sehr schätzt, verändert sich und zieht sich aus seinem sozialen Umfeld zurück. Von diesem Rückzug berichten fast alle, denn einerseits ist Nähe aufgrund der eigenen Dünnhäutigkeit schwer zu ertragen und andererseits will man anderen nicht zur Last fallen. Ein großes Problem, das damit einhergeht: Sehr häufig haben Betroffene keine Einsicht in ihre Erkrankung, da sie versuchen ihr Leben weiter auf die Reihe zu bekommen. Mir zumindest ging es so. Ich habe so lange versucht, den Schein zu wahren, bis mir irgendwann eine Freundin gesagt hat: „Nils. Du suchst dir Hilfe. Jetzt.“ Ich habe „Ja“ gesagt und trotzdem noch vier Wochen gebraucht. Dann ging es nicht mehr und ich habe mir endlich, endlich Hilfe gesucht.

Es gibt viele Hilfsangebote. Man muss nur wissen, wo man sie findet. Hier findet ihr einen Link zur Deutschen Depressionshilfe , deren Onlineauftritt wirklich gut ist und weiterhilft. Wer außerdem wissen möchte, wie sich meine Depression für mich anfühlt, und was mir besonders hilft, der schaue hier.

Ein paar Dinge möchte ich noch zum Thema sagen.

  1. Depressionen sind hinterhältig, denn wie eine Welle bauen sie sich langsam auf, entwickeln aber ungeheure Wucht.
  2. Depressionen sind schwer zu ertragen, denn sie sind schambehaftet. Niemand spricht gerne über sie, dabei hilft meiner Erfahrung nach Offenheit am meisten.
  3. Depressionen sind übergriffig, denn sie erfassen und belasten immer die ganze Familie.
  4. Depressionen sind schwer fassbar, denn man kann sie nicht sehen und vor allem sich selbst kaum erklären, was gerade mit einem passiert. Wie soll man es da anderen erklären?
  5. Depressionen können tödlich sein, denn ihr äußerstes Symptom ist der Suizid. Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr Menschen durch Depressionen als durch Verkehrsunfälle, Aids, Drogen und Morde zusammen, obwohl Depressionen mit Geduld gut behandelbar sind und obwohl man gut mit Depressionen leben kann… Jeder Suizid, der durch Depressionen ausgelöst wurde, ist einer zuviel.

Und dennoch kann in einer Depression auch eine Chance liegen, zu sich selbst zu finden, herauszufinden, wer man ist oder wer man sein möchte. Aber dazu braucht es Hilfe, Geduld mit sich selbst, Akzeptanz seiner selbst, Unterstützung und das Gespräch.

Also, lasst uns offen sprechen.