„Die Entdeckung der Langsamkeit“ lautet der Titel eines lesenswerten Romans von Sten Nadolny. Literarische Hauptfigur ist der englische Entdecker Sir John Franklin, der von Kindesbeinen an langsam ist. In allem. So langsam, dass er die Menschen um ihn herum in den Wahnsinn treibt. Alle anderen spielen Ball, er hält den Ball minutenlang in den Händen und betrachtet ihn. Er kann sich stundenlang in sich selbst versenken.

Seine Mitmenschen können, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht das Besondere in ihm sehen. Denn seine Langsamkeit befähigt ihn dazu, die Welt intensiv wahrzunehmen, genau zu beobachten und besonnen zu handeln. Wie gesagt: John Franklin ist die literarische Hauptfigur eines Romans. Mit dem historischen John Franklin, dem Entdecker der Nordwestpassage, hat sie nur den biographischen Rahmen gemeinsam. Der historische Franklin war nicht besonders schnell, aber auch nicht besonders langsam.
„Die Entdeckung der Langsamkeit“ war im Bildungsbürgertum der 80er und 90er Jahre Pflichtlektüre. Das Buch stand in einer schnelllebigen Zeit für eine Rückbesinnung auf das Langsame in uns. Der Titel „Die Entdeckung der Langsamkeit“ erinnert daher ein wenig an Sentenzen wie „Back to the Roots“ oder „Zurück zur Natur“. Auch die Wissenschaft betont die Vorzüge der Langsamkeit seit einiger Zeit. Daniel Kahnemann z. B. in „Schnelles Denken, langsames Denken.“ Daneben gibt es viele populärwissenschaftliche Bücher über die Langsamkeit, der man neue, schönere Namen gibt: Achtsamkeit. Achtsam durchs Leben gehen bedeutet wahrnehmen und spüren: Was ist um mich in diesem Moment? Wie bin ich in diesem Moment? Das geht nur, wenn ich mich verlangsame, mich runterfahre. Die Regale bei Thalia sind voll von Ratgebern, in deren Titel „Achtsam“ oder „Achtsamkeit“ steht. Einige gut, viele oberflächlich und weniger gut.

Zur Achtsamkeit kommen Hygge, Lagom und viele andere Lebensphilosophien, die einen Kontrapunkt zu unserem schnellen Leben setzen und sich gut verkaufen lassen. Der Kern der Botschaft ist meist ein ähnlicher: Verlangsame Dich, nimm dir Zeit zu spüren und wieder ins Lot zurückfinden. Entschleunigung ist das Zauberwort.
Trotzdem. Wirklich ernstgenommen wird das Bedürfnis nach Entschleunigung und Langsamkeit in meinen Augen nicht. Geschwindigkeit treibt unser Leben. Schüler*innen müssen immer schneller erwachsen werden: Potenzialanalyse in der achten Klasse, damit sie wissen, wo ihre Interessen liegen. Das Abitur kommt mit 17, mittlerweile wenigstens wieder mit 18 oder 19. Spätestens dann muss aber klar sein, wo es hingeht im Leben. Junge Menschen sollen schnell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und mit 24 ihren BA haben. Online-Ratgeber geben Tipps, wie man Entschleunigung benutzt, um effektiver zu arbeiten und bessere Ergebnisse abzuliefern. Es wird immer verrückter. Und ich konnte und kann mich nicht ausnehmen: Wie oft bin ich in den ICE, am Ohr das Telefon, irgendwelche Dinge klärend, in einer Hand einen Kaffee, in der anderen einen Koffer. Oder mein Lebenspartner Amazon. Überbietet sich selbst darin, Produkte immer schneller an ihr Ziel zu bringen. Mittags bestellt, abends geliefert. Die LP z. B., mit der ich am späteren Abend meine analoge Langsamkeit auf meinem 70er Jahre Dual-Spieler feiere. Ups. Erwischt. Die Taktung, in der ich mein Leben lebe, war lange Zeit sehr schnell. Und ich wurde bewundert, wenn ich mit diesem Takt mithalten konnte. „Wann machst du das eigentlich alles? Wie bekommst du das auf die Reihe? Hat dein Tag mehr als 24 Stunden?“ Solche Fragen gefallen mir auch heute noch.
Mein Problem ist: Dieser Takt war nie mein Takt, ist nicht mein Takt. Ich habe gegen meinen eigenen Takt gelebt. Tatsächlich fühle ich mich, wenn ich mein eigenes Leben betrachte, der literarischen Figur John Franklin verbunden. Nicht, weil ich das erreichen und leisten möchte, geschweige denn jemals erreichen würde, was der historische John Franklin erreicht und geleistet hat. Die Nordwestpassage. Der heilige Gral der Seefahrt. Sie hat ihn und seine Mannschaft das Leben gekostet. Um so einen Vergleich geht es nicht. Worum dann? Um das Gefühl des Verlorenseins, darum, nicht so zu sein wie die anderen und um die damit verbundene Scham. Ich habe mich lange dafür geschämt, langsamer zu sein als andere. Denn das war ich: In der Grundschule galt ich als Träumer, der mit seinen Gedanken überall war. Nur nicht da, wo er sein sollte. Steht in allen meinen Zeugnissen. Ich spielte noch mit Matchbox-Autos und las in der Stadtbücherei heimlich ‚Fünf Freunde‘, ‚TKKG‘‚ ‚Pitje Puck, der lustige Postbote‘, ‚Hanni und Nanni‘ oder ‚Dolly‘, während alle anderen Jungen in meinem Alter sich vom Dr. Sommer Team beraten ließen. Ich war langsamer und ich schämte mich dafür. Das galt auch in der Schule, auch am Gymnasium, denn ich wollte die Dinge, die ich tat, nicht tun, weil ich sie tun musste, sondern um sie zu verstehen.

Und das tat ich in meinem Tempo. Langsam, aber gründlich. Zum Beispiel hätte ich sehr gerne gewusst, warum in der Mathematik die Konvention „Punkt- vor Strichrechnung“ gilt. Warum sollte ich Formen verwenden, die ich nicht verstand und deren Entstehung mir keiner erklären wollte oder konnte? Langsam, wie ich war, passte ich bereits in den 80er Jahren nicht in das System. Viele Lehrer*innen und ich fürchte auch meine Eltern verwechselten meine Langsamkeit mit Dummheit. So kann man sich täuschen.
Ich denke schnell, aber tiefgründig, und ich denke quer. Ich erfasse Zusammenhänge schnell. Ich lese schnell. Ich behalte alles, was ich einmal gelesen oder gehört habe. Denn mich interessiert – fast – alles. Ebenso schnell wie ich denke, arbeite ich. Ich kann über mehrere Stunden konzentriert lesen, schreiben, Unterricht vorbereiten, was auch immer. Ich tauche in meine eigene Welt ab und hasse es, darin gestört zu werden. Wie passt das dazu, dass ich langsam bin?
Ich muss langsam leben, um so denken und arbeiten zu können. Ich brauche morgens Ruhe. Ich brauche es, im Sessel zu sitzen, einen Kaffee zu trinken und für mich zu sein, um meine Kreativität zu entfalten. Manchmal greife ich auch zur Gitarre oder lese ein wenig, bevor ich zu arbeiten beginne.

Ich brauche Spaziergänge wie die Luft zum Atmen, ich muss mich an einen Baum lehnen und den Vögeln zuhören können, um mich zu spüren. Ich brauche lange Radfahrten oder Läufe, damit mein Kopf und meine Seele sich von den vielen Gedanken erholen kann. Ein Gedanke ist nur ein Gedanke. Und trotzdem können Gedanken seeeeehr anstrengend sein…
Mein innerer Kritiker (Kürzel IK) schreit gerade. „Luxus! Das ist Luxus. Leiste gefälligst. Andere stehen auch jeden morgen auf und gehen zur Arbeit. So geht das nicht weiter mit dir. Wie willst du so gesund werden? Wie willst du jemals wieder zurück in ein normales Arbeitsleben finden? Du musst finanziell etwas zum Familienleben beitragen.“ Ich antworte: „Tu‘ ich doch. Ich beziehe ALG1 und …“ Meinem IK platzt der Kragen: „Ich glaube es nicht. ALG1. Das ist kein Einkommen. Lass dich nicht so hängen. Bewirb dich gefälligst. Ein Rücker, der nicht arbeitet… Mir fehlen die Worte.“ Das ist der Moment, in dem sich der kleine Nils unter der Bettdecke verkriecht. Das ist aber auch der Moment, in dem sich der große, der erwachsene Nils mittlerweile vor den kleinen Nils stellt und dem IK antwortet. „Es geht hier nicht um Luxus. Es geht um das Gegenteil von Luxus. Es geht um ein Leben, das unserem Wesen entspricht. Dazu müssen wir erstmal rausfinden, wer wir eigentlich sind.“ Das lässt sich der IK ungern bieten: „Klar. ‚Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele.‘“ Mein IK ist ein Zyniker, sehr gebildet und kann Richard David Precht zitieren. Gespräche mit Zynikern führe ich ungern. Trotzdem. Solche oder ähnliche Diskussionen führe ich täglich. Mit mir selbst. Mit anderen selten, aber doch zu häufig. Neulich sagte mir eine ältere Dame, die mich kaum kennt, die nichts von mir weiß: „Sie dürfen sich nicht so hängen lassen. Sie geben sich ihren Gefühlen hin. So geht das doch nicht.“ Die Dame kann das gerne denken. Jeder kann denken, was er will. Aber muss sie es mir – ungefragt – sagen? Ich hatte sie nicht um ihre Meinung zu meinem Leben gebeten. Häufiger, auch aus der Familie und dem Freundeskreis, kommt die Frage, wann ich gesund sein werde, wann ich am Arbeitsleben werde teilnehmen können, wann ich der Alte sein werde. Mir ist klar, dass dahinter die Sorge um Adina, um die Kinder und um mich steht.
Meine Antwort: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wann ich gesund sein werde, wann ich werde arbeiten können, wann ich der Alte sein werde (was bedeutet das eigentlich?). Vielleicht ist es so, dass ich meinem langsamen Wesen gemäß auch langsam gesund werde. Dafür aber gründlich. Ich brauchte immer meine Zeit. Warum soll es jetzt anders sein? Ich muss so viele Dinge neu lernen. Ein Beispiel. Mir wurde als Kind verboten traurig zu sein oder Angst zu haben, wenn meine Mutter wieder einmal ihre unnahbare Seite zeigte und mir ihre Liebe entzog. Einige erwidern jetzt vielleicht, dass man Traurigkeit und Angst, dass man Gefühle, nicht verbieten kann. Doch. Das geht. Zumindest haben meine Eltern mir ein abgrundtiefes Gefühl von Scham eingepflanzt; und ich wurde bestraft, wenn ich Trauer und Angst zeigte. Trauer, Angst, Scham und Bestrafung sind für mich nicht zu trennen. Wenn der kleine Nils traurig war, versteckte er sich unter der Bettdecke oder versuchte seine Traurigkeit gutzumachen durch besondere Leistung. Im Kern beginnt sich das erst jetzt zu ändern. Ich lerne langsam, dass nichts passiert, wenn ich meine Trauer zulasse und zugebe. Ich lerne, dass nichts passiert, wenn ich meine Angst zugebe, dass ich nicht bestraft werde. Ich lerne, dass die Scham vergeht, dass andere meine Scham wahrnehmen und mich trösten. Dieses Lernen ist anstrengend, denn es bringt meinen Geist und meine Seele in Aufruhr. Und meinen IK auf 180. Meinem Verstand ist das alles längst klar, meiner Seele nicht. Weinen kann ich nicht. Tränen zulassen, das wird dauern. Ich bin noch nicht so weit, mir selbst die Empathie zu geben, die ich anderen zuteil werden lasse. Und das ist auch in Ordnung. Ich brauche Zeit, um zu gesunden und zu heilen. Ich brauche diese Zeit mit Blick auf die Traumata, die mir als Kind zugefügt wurden. Ich brauche diese Zeit mit Blick auf den Scheiß, der meiner Familie und mir in den letzten Jahren zugestoßen ist. Klar. Aber mehr noch brauche ich diese Zeit, weil ich ich bin. Weil das mein Takt ist. Weil es meinem Wesen entspricht. Ich weiß nicht, wie sich meine Depression entwickelt. Woher soll ich das wissen? Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Tatsächlich glaube ich, dass der eigentliche Grund für meine Depression genau darin liegt: dass ich mich selbst nicht gesehen habe, dass ich ein Leben zu führen versucht und erfolgreich geführt habe, das nicht mir selbst entsprach, dass ich mich darüber verloren habe.
Und jetzt? Ich versuche meinem Wesen entsprechend zu leben. Langsam. Immer langsam.

Klar. Manchmal übertreibe ich es. Martin, einer meiner besten Freunde, sagte einmal: „Die Welt geht unter. Nils kocht sich einen Tee und packt die Gitarre aus.“ Meine Antwort war: „Warum nicht? Die Welt geht auch ohne mich unter.“ Ich musste erst lernen, dass es anderen vielleicht nicht so geht, dass andere andere Bedürfnisse haben als ich. Dass andere vielleicht nicht soviel Langsamkeit brauchen. Dennoch. Was ist die Zeit, die ich brauche, um gesund zu werden, gerechnet auf mein Leben? Was sind zwei oder drei Jahre? Also immer langsam.
Pause.
Manchmal muss man Pause machen. Das muss man sich selbst sagen. Und sein inneres Kind… ähm dabei unterstützen.
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