Ende November. Der Herbst hat Einzug gehalten. Endlich und dem Klimawandel zum Trotz. Es ist nasskalt, der Himmel schmutzig grau. Es will nicht hell werden. Der knorrige Apfelbaum in unserem Garten sieht aus, als hätte ihn ein riesenhafter Frisör gerupft. Die Krone ist so licht, dass ich bis zum Nachbarhaus sehen kann. Vor vier Wochen war es unmöglich, die Kinder zu entdeckten, wenn sie im Geäst kletterten. Vereinzelt hängen verschrumpelte Äpfel im Baum. November. Ich sitze im Warmen am Tisch, zwei Kerzen habe ich angezündet. Es ist merkwürdig. Die Flamme der ungeschützten Kerze auf dem Adventskranz steigt wie eine Pfeilspitze gerade nach oben, die Flamme der geschützten Kerze im Glas flackert heftig und kämpft mit einem Wind, der nur sie trifft.
Ich sitze im Warmen zu Hause, um mich von meiner zweiten Covid-Infektion zu erholen. Der harte Teil kam nach der Infektion. Mit dem negativen Test, der mich ins Arbeitsleben entlassen sollte, kam die Erschöpfung. Eine Stunde Spazierengehen schaffe ich. Danach brauche ich eine Stunde Pause. Eine Stunde Einkaufen schaffe ich auch. Danach brauche ich zwei Stunden Pause. Nehme ich mir diese Pausen nicht, schlägt die Erschöpfung unweigerlich am folgenden Tag zurück. Dann geht nichts mehr. Seit vier Wochen ist das so. Es wird langsam besser. Gut möglich, dass ich ins Krankengeld falle, wie man so schön sagt. Man „fällt“ ins Krankengeld. Was sagt dieses Bild? Dass man ins Netz fällt oder dass man zu Fall kommt? Wahrscheinlich hängt es davon ab, wie man auf die Welt schaut. An guten Tagen freue ich mich über das Netz. An Schlechten Tagen denke ich: „Wieder zu Fall gekommen.“ Es ist, wie es ist.
Ich liege viel und ich lese viel, auch wenn mir immer wieder die Augen zu fallen. Ich lese: Die Erfindung der Sprache von Anja Baumheier und die Straße der Ölsardienen (Cannery Row) von John Steinbeck. Beide Romane drehen sich um gescheiterte Existenzen, die bei tieferem Blick wahre Lebenskünstler sind. Cannery Row war eines der Lieblingsbücher meines Vaters. Die alte Ausgabe aus den 1950er Jahren habe ich von ihm geerbt. Der Schutzumschlag ist so zerfleddert wie die Protagonistinnen und Protagonisten: Mac und seine Truppe abgerissener, schlitzohriger Straßenphilosophen, die Puffmutter Dora und natürlich Doc. Sie vereint eine Lebenslust, die allen Widrigkeiten trotzt, und vor allem Empathie und Menschlichkeit. Steinbeck setzt sie so meisterhaft, so lebendig in Szene, dass sie mich begleiten werden wie die Heldinnen und Helden meiner Kindheit von Pitje Puck, dem lustigen Postboten, über Pünktchen und Anton bis hin zu Frodo und Sam. Ich glaube zu verstehen, warum mein Vater Cannery Row so geliebt hat: Steinbeck stellt die vorgeblich Gescheiterten, die mit der wahren Menschlichkeit, den vorgeblich Angekommenen mit ihrer Kälte gegenüber. Und der hochbegabte Doc, der so viel mehr hätte erreichen können, entscheidet sich bewusst für die Gescheiterten und die Menschlichkeit. Mein Vater war Zeit seines Lebens auf der Flucht vor seiner im Bürgertum angekommenen, aber unmenschlichen Herkunftsfamilie. Vielleicht ist er so viel gelaufen, so viel gewandert, weil er nicht ankommen wollte.
Ich lese Hans Joseph Ortheils autobiographischen Roman „Der Stift und das Papier“. Es geht um einen Jungen, der das Sprechen verlernt, weil seine Mutter nach dem Tod von vieren ihrer fünf Kinder verstummt. Es geht darum, wie dieser Junge durch das Schreiben und mit dem bedingungslosen Vertrauen seiner Eltern seinen Weg ins Leben findet. Natürlich erinnert der Junge mich an den kleinen Nils, der versucht hat, seinen Weg zu finden und ihn, denke ich, gefunden hat. Nur dieses bedingungslose Vertrauen seiner Eltern in seine Fähigkeiten, das fehlte ihm und das fehlt ihm noch.
Ich lese: „Der Weg der Könige“ von Brian Sanderson, ein monumentaler Fantasyzyklus. Ein Mammutprojekt. Ich lese seit mindestens zehn Stunden daran und bin in der Kindle-Ausgabe bei 41% von Band 1. Aber die Mühe lohnt, auch wenn manche Szenen langatmig sind. Die Figuren, die in einer uns fremdartigen Gesellschaft leben, nehmen mich ein.
Ich lese nicht „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig, der das großartige Buch „Gründe am Leben zu bleiben.“ geschrieben hat. In seinem neuesten Roman landet ein Mädchen, das sich aus der Verzweiflung heraus das Leben nehmen will, in einer Bibliothek und muss dort in einem Wettlauf gegen die Zeit den Weg zu sich selbst finden. Ich würde es gerne lesen, aber als Leser, der Suizidalität kennt, traue ich es mir – noch – nicht zu. Und ich mache mich nicht fertig deswegen.
So sieht er also aus, mein November: Tristes Wetter und tiefgreifende Erschöpfung auf der einen, aber so viel Schönes auf der anderen Seite.
Nächstes Mal geht es um Musik. Wenn mir bis dahin nichts anderes begegnet.