„Wie kann es sein, …

dass eine Gesellschaft, die gleichgeschlechtliche Ehen und ein Geschlecht divers kennt, also eine offene und tolerante Gesellschaft, Menschen mit Depressionen stigmatisiert?“, fragte mich vor eine paar Wochen meine Freundin Nicole.

Ich kam ins Nachdenken. Ja, warum eigentlich? Verlor den Gedanken aus den Augen. Bis ich in der vergangenen Woche einen befreundeten Rennradfahrer traf, der genau wie ich das Fahren liebt, weil es ihm die Schönheit und Einfachheit des Lebens nahebringt, weil er die Natur, das Unterwegssein und den Flow liebt. Er leidet unter Depressionen. Wie ich und wie viele andere. Seine Eltern wissen davon. Ein Betriebsrat seiner Firma weiß davon. Und ich weiß davon. Das wars.

Seine Eltern haben ihm geraten, das für sich zu halten, bloß niemanden etwas davon zu erzählen. Man könnte ihn für verrückt halten, hinter seinem Rücken über ihn lachen. Der Betriebsarzt hat ihm klar gesagt: „Wenn die Chefetage das rausbekommt, bist du raus. Das ist so. Behalte es für dich.“ Wie kann es sein, dass einem intelligenten, leistungsbereiten, warmherzigen Menschen geraten wird, seine Krankheit zu verbergen? Wie kann es sein, dass nicht einmal Geschwister und Freunde etwas wissen dürfen. Wie kann es sein, dass Eltern von Scham vor sich her getrieben werden? Sicher. Generationenfrage. Sozialisationsfrage. Trotzdem. Ich würde mir wünschen, dass Eltern ihren Kindern, ganz gleich wie alt sie sind, sagen: „Wir stehen das zusammen durch. Wir helfen dir. Scheiß auf das, was andere sagen.“

So. Was ist der Job eines Betriebsrats? Er vertritt die Arbeitnehmerinteressen. Großartig. Der Betriebsrat meines Freundes hat seinen Beruf verfehlt. Was da passiert, ist das Gegenteil von Inklusion. Das ist Exklusion. Ausgrenzung von Menschen, die den schwersten Schritt von allen, nämlich den ersten, tun und sich Hilfe holen wollen. Und dann auf die Fresse kriegen. Super. Weniger Empathie geht nicht. Da würde ich auch nichts mehr sagen.

Ich weiß nicht, wie es sein kann. Aber es ist so. 30% der Befragten glauben, dass man eine Depression dadurch in den Griff bekommt, dass man sich zusammenreißt. 25 % der Befragten glauben, dass Depressionen mit einem Charakterfehler zu tun haben (Studie der Deutschen Depressionshilfe). Das sind jede_r Dritte und jede_r Vierte. Und diese Sicht auf die Depression, ist nicht auf das beschränkt, was wir Akademiker mit der uns eigenen Selbstsicherheit gerne bildungsferne Schichten nennen. Ein Mensch mit Doktortitel und allem drum und dran hat mir einmal gesagt: „Dein Freund Sebastian, ich glaube, der ist selbst schuld daran, dass er Depressionen hat.“ Das ist so einfältig, so dumm und so verletzend. Schlimmeres kann man einem Menschen, der unter Depressionen leidet, nicht sagen.

An dieser Stelle wird mir klar, was für ein Glück ich habe. Dass Adina mich auf meinem Weg begleitet, dass meine Freund_innen mir Halt geben. Jede und jeder auf eigene Weise. Es liegt zu einem großen Teil an ihnen, dass ich mich geöffnet habe, dass ich beschlossen habe, meine Erkrankung nicht zu verbergen. Auch wenn ich manchmal Angst vor meiner eigenen Courage und den Konsequenzen habe, weiß ich doch, dass sie mich auffangen, dass sie mich vielleicht nicht immer verstehen, aber mich so nehmen, wie ich bin. Danke! Adina und Sebastian und Marina, Nicole, Daniel und Maria, Claudia, Stefan, Petra und Werner, Kerstin, Thomas und Christina.

Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir uns vielleicht doch alle ein wenig mehr füreinander öffnen, dass wir weniger bewerten und urteilen, sondern zugewandter werden.

Meinem Freund wünsche ich, dass er Menschen findet, denen er vertrauen kann, denen er sich öffnen kann. Das ist so hilfreich! Und so wertvoll für die, denen man sich öffnet!

4 Kommentare zu „„Wie kann es sein, …

  1. Ich bin meine letzte Arbeitsstelle aufgrund/trotz meiner Depression losgeworden. Der Betriebsrat war nur körperlich bei den Verhandlungen anwesend. Mein Arbeitgeber nutzte meine schwache Position gnadenlos aus. Ein paar Jahre vorher war die Wiedereingliederung und die Weiterbeschäftigung nach einem Zusammenbruch und einem dreimonatigen Aufenthalt in einer Tagesklinik mühelos möglich gewesen. Privat stoße ich auf viel Verständnis, was meine Erkrankung anbetrifft. Auf Behörden werde ich mitunter wie ein geistig Schwerbehinderter behandelt. Deswegen kann ich deine Erfahrung bestätigen, dass es eine Frage der Courage und der daraus folgenden Konsequenzen ist, wie und wann ich mit dem Thema offen umgehe.

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    1. Hallo Galgenzork, danke für Deinen Kommentar! Das tut mir leid mit deiner Arbeitsstelle. Ich weiß nicht, Courage, so meinte ich das nicht… Jemand, der seinem Arbeitgeber nichts sagt, weil er eben von vielen gehört hat, denen es wie dir ging, der handelt ja besonnen und deswegen nicht weniger couragiert. Ich wollte eher sagen, was für ein verdammtes Glück ich mit meinem Umfeld habe.
      Allerdings, was Ämter betrifft… Das erlebe ich auch im Monatsrhythmus, oder je nach dem, welche Ämter was wollen, auch häufiger.

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  2. Warum Leute kein oder nur sehr wenig Verständnis für Depressivität haben und das Thema oft auch nichtmal theoretisch an sich ranlassen, ist vielschichtig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, kann ich folgendes zur Aufklärung beitragen.

    Leute mit Depression passen einfach nichts ins vorherrschende Paradigma der Rundum-Wohlfühl-Spass-Hochleistungserfolgsgesellschaft. Das Veräussern, also Öffentlichmachen von Depression, kratzt an der bestehenden Fassade, gesellschaftlich und persönlich. Man möchte nicht an seinem Schöne-Heile-Welt Weltbild kratzen lassen. Depression ist ansteckend.

    Die meisten Menschen sind irgendwann in ihrem Leben einmal oder mehrfach schon sehr unzufrieden gewesen, haben das überwinden können, wie auch immer, und viele denken daher, dass das alle anderen auch können. Der Dunning-Kruger-Effekt wirkt hier sehr stark und induziert vermeintliche Expertenkenntnis der „Lage“. Gepaart mit an den Tag gelegter rein induktiver Erkenntnisfindung, also dem Schluß vom Speziellen hin zum Allgemeinen (von sich auf andere schliessen), sind die erlebten Reaktionen (Nichtigsetzung) nachvollziehbar.

    Hinzu kommt, dass viele Leute entweder gar nicht die Zeit dafür haben oder zu doof sind über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken. Die hängen in ihrer Mühle fest. Depressionen sind ja oft durch Weltschmerz induziert, und wenn man von der Welt kaum etwas mitbekommt, kann einen das auch nicht erschüttern. Ich weiss nicht mehr, wer das mal schrieb, aber „Glücklichsein ist nur ein Mangel an Informationen“ ist ein Spruch, der die Sache ziemlich deutlich darzustellen vermag.

    Ich bin selber auch depressiv. Bewusst ist es mir seit mein empathischer Kompass sich ausgebildet hat und ich mich tiefergehend mit dem Weltgeschehen auseinander gesetzt habe. Manchmal denke ich, dass der Irrsinn, der mehrheitlich stattfindet, eigentlich nicht sein kann, wir also in einer Simulation stecken, und man mich doch bitte endlich rausholen möge. Doch ich werde nicht abgeholt. Ich bin tief gespalten. Die Menschheit ist verantwortlich für unfassbar tolle Dinge, und ich bin oft so stolz auf uns und dankbar, dass ich jetzt und hier bin und sein darf. Gleichzeitig empfinde ich die Menschheit als hochgradig ekelerregend und verabscheuenswürdig. Das nennt man Kognitive Dissonanz und ich trage eine extra grosse Portion davon mit mir rum.

    Warum ich so empfindsam bin für so etwas, ist mir nicht genau bewusst. Es hat sehr wahrscheinlich mit meiner Sozialisation zu tun und der Umgebung in der ich aufgewachsen bin. Die ersten vier Lebensjahre musste ich miterleben, wie mein leiblicher Vater meine Mutter kontinuierlich fast zu Tode geprügelt hat, bis wir dann geflüchtet sind. Der neue Mann meiner Mutter war aber auch gewalttätig, nur halt mir gegenüber, wenn auch im Ausmaß nicht annähernd so extrem wie Vater #1. Dutzende andere schwerwiegende Undinge, im direkten Familienumfeld haben meine Prägung vervollständigt. Da sind Dinge abgelaufen, die sind so abstruß und lebensfeindlich, dass sie nur schwerlich als Realität ins Bild einzuordnen sind. So krass, das kann man sich nicht ausdenken.

    Ich meide enge persönliche Bindungen wie die Pest. Daher habe ich viel Zeit gehabt, um mich mit Psychologie, Philiosophie, dem allgemeinen Zeitgeschehen und mit mir selber zu beschäftigen. Am Leben hält mich vorallem meine Neugier aufs Morgen und das Radfahren. Richtig frei, fühle ich mich nur auf dem Bike. Ich habe vier. Früher waren es mal sieben. Dass ich relativ häufig unter Depressionen leide, weiss so gut wie niemand. Vielleicht mache ich mal ein Experiment und veräussere den Umstand aggressiv und schaue mir die Reaktionen genauer an. Ich werd auch mal meine depressiven Freunde befragen, wie sie zum Verheimlichen stehen. Danke für das Aufwerfen der Fragestellung in diesem Blogeintrag.

    P.S. Ich glaube der Kommentarbereich ist nicht DSGVO-konform bezüglich der Verarbeitung der Email-Adresse. Ich sags nicht weiter! Könnte aber Schwierigkeiten nach sich ziehen.

    P.P.S. Falls der Kommentar nun doppelt ist, einen bitte entfernen. Keine Ahnung, ob der erste Versuch von WordPress akzeptiert wurde oder nicht.

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    1. Hallo Anarchist, danke für deine Überlegungen zum Thema. Ich habe mir auch so meine Gedanken über das Thema gemacht und auch etwas geschrieben, aber der Text ist noch nicht fertig. Danke auch für den Hinweis zur DSGVO. Jetzt müsste es, glaube ich, passen. Grüße, Nils

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